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Leseprobe Steam Angel - Das Mal

Aktualisiert: 26. Apr.


Das Mal, Band 1 der Reihe.

Kapitel 12

Abschnitt 1

Autor: Alex Pudlich


Langsam klärte sich Charlottes Blick und als sie sich umdrehte, fühlte sie sich von dem Getümmel auf dem Platz völlig erschlagen. Mehr noch, als vom Trubel in dem Haus hinter ihr. Sprachlos stand sie vor der Tür zum Clubhaus und überlegte einfach wieder reinzugehen. Vor ihr lag eine Art Marktplatz, gesäumt von baufälligen Gebäuden, von denen der Putz abbröckelte. Und direkt dahinter lag der Hafen mit riesigen Schiffen, deren Segel eingezogen waren. Möwen flogen kreischend über sie hinweg. Sprachlos stand sie da, öffnete den Mund, schloss ihn wieder und starrte auf das offene Meer hinaus.

Am Horizont erkannte sie weitere Schiffe, deren Segel wie große weiße Wolken aussahen.

»Seltsame Wolken«, zitierte sie ihren Lieblingscharakter. Ihr Blick wanderte weiter, zu einem wuchtigen Fachwerkhaus, an dem sich riesige Wasserräder befanden. Es sah aus, wie ein Wasserwerk oder etwas in die Richtung. Innerlich notierte sie bereits die Fragen, mit denen sie Alexander löchern wollte.

Sie trat zwei drei Schritte vor und sah sich weiter um. Mitten auf dem Platz standen ein paar Wagen, beladen mit Holzbalken, Metallstreben und diversen Säcken. Von der Arbeit gezeichnete Männer in verdreckten – einst weißen – Unterhemden schleppten die Ladungen zu verschiedenen Gebäuden. Sie brüllten sich gegenseitig Befehle zu. Ihre Stimmen waren rau, zum Teil heiser und ihre Haut schien von der Arbeit im Freien gegerbt zu sein.

»Willst du da weiter rumstehen?«, fragte Alexander mit einem leicht genervten Unterton. »Ich würde gerne beim Amt ankommen, bevor sich dein Mal wieder verändert.«

»O man, du stresst echt«, erwiderte Charlotte und lief an ihm vorbei die Treppe nach unten. »Tut mir leid, dass ich gestern in einen Zug gestiegen bin, der mich in eine Welt gebracht hat, die noch in einem anderen Jahrhundert festzustecken scheint. Ich entschuldige mich tausendfach dafür, dass ich diese Eindrücke auf mich wirken lassen muss, um nicht völlig durchzudrehen. Und ich entschuldige mich auch dafür, dass ich nicht gleich auf Anhieb so funktioniere, wie du das willst!«

Ihre Stimme wurde brüchig und sie wurde lauter, während Alexander schweigend hinter ihr auf der Treppe stehen blieb und wartete, bis sie fertig war. Ihm fielen die Blicke der Arbeiter auf und allmählich wurde ihm ihr Ausbruch ein wenig unangenehm. Ihr pubertäres Verhalten nervte ihn jetzt schon, bis sie sich zu Alexander umdrehte und mit geröteten Augen zu ihm hochsah.

»Ach Mäuschen«, seufzte er. »Bitte wein‘ doch nicht. Ich bin einfach nur etwas gestresst. Die Situation mit dir setzt mich hier etwas unter Druck und dass du dich hier umschauen willst, macht es echt nicht besser.«

»Super«, schnaufte Charly und wischte sich über die Augen. »Soll ich also einfach brav neben dir herlaufen, als hätte ich Scheuklappen vor den Augen?«

»Wäre nett.«

»Du bist ein Arsch!«

Alexander schüttelte den Kopf und lief nach unten. Ohne auf sie zu warten setzte er seinen Weg fort, in der Annahme, dass sie ihm schon folgen würde. Hinter sich hörte er schlurfende Schritte und lächelte eine Sekunde zufrieden, bis ihm ihr bockiges Schlurfen nervte. Es zu ignorieren fiel ihm mit jeder Minute schwerer und bald darauf blieb er stehen, drehte sich um, packte das Mädchen am Arm und zog sie in eine schmale Gasse, wo er sie gegen eine Hauswand drückte.

»Hör zu, Charlotte, ich gebe mir gerade echt die größte Mühe, dich hier heile zum Ministerium zu bringen«, zischte er. Die Sechzehnjährige sah ihn mit großen Augen an, einige Arbeiter liefen an der Gasse vorbei und schauten flüchtig zu ihnen. »Aber du machst mir das verdammt schwer. Du benimmst dich wie eine verzogene Göre, nicht wie eine achtzehnjährige junge Frau. Wenn du sterben willst, dann hätten wir uns gestern nicht in solche Schwierigkeiten bringen brauchen.«

»Tut mir leid«, murmelte Charlotte und senkte den Blick. »Ich … keine Ahnung was ich sagen soll.«

»Schon gut«, sagte er und lockerte seinen Griff etwas. »Tu mir einfach den Gefallen und reiß dich zusammen. Du kannst dich nach dem Besuch im Ministerium ganz in Ruhe umschauen. Ich zeige dir alles, was du willst, aber nicht jetzt.«

Behutsam wischte er mit dem Daumen über ihre Wange, um ihre Tränen etwas zu trocknen. Sie drehte das Gesicht zur Seite, um ihn nicht ansehen zu müssen. Kurz darauf ließ er Charlotte los und verließ die Gasse wieder, gefolgt von dem Mädchen. Die nächste Zeit blieb sie dicht bei Alexander und traute sich nicht, sich weiter umzusehen. Doch kaum, dass sie das Handwerksviertel hinter sich ließen, wurde ihre Neugier geweckt.

Sie folgten einer unebenen Straße. Und alles sah genauso aus, wie in ihren Träumen. Links und rechts reihten sich Wohnhäuser aneinander, teilweise über mehr als eine Ebene und mit Brücken miteinander verbunden. Leinen waren von Haus zu Haus gespannt, auf ihnen hingen Laken und Wäsche. Frauen lehnten sich aus den Fenstern und unterhielten sich lautstark.

Ihr Gebrüll mischte sich auf angenehme Weise in den allgemeinen Geräuschpegel des Viertels, dabei fuhren hier nicht einmal Fahrzeuge. Dennoch war das Brummen von so etwas wie Motoren zu hören, und erst als Charlotte den Blick von den Waschweibern weiter wandern ließ, erkannte sie den Ursprung dieses Geräusches. Über ihnen zogen dunkle Schatten hinweg, die zu riesigen Luftschiffen gehörten. Abermals blieb Charly stehen und starrte mit offenem Mund nach oben.

»Charlotte, bitte!«, mahnte Alexander regelmäßig und zog sie weiter.

»Sind das echt Zeppeline?«, fragte das Mädchen, die kaum glauben konnte, dass sie sowas wirklich sah.

»Ja doch.«

»Sind das die normalen Transportmittel? Mal abgesehen von den Wagen vor eurem Haus.«

»Ja und nein«, antwortete Alex und schlüpfte mit ihr durch die Menschenmenge hindurch. »Wir haben auch Automobile, aber die Straße hier ist zu schlecht, weswegen du hier keine zu Gesicht bekommen wirst. Aber weiter vorne gibt es eine große Kreuzung, da wirst du noch viel mehr sehen.«

»Um Himmelswillen, Alexander«, stöhnte Charlotte. »Wie soll ich denn nicht einfach stehen bleiben und mich umsehen? Es gibt hier so viel zu sehen.«

»Geduld Mäuschen, Geduld.«

»Nenn mich nicht dauernd Mäuschen.«

»Warum nicht?«

Er erhielt keine Antwort. Um sie herum war es laut, sie musste ihre Stimme heben, um gegen der Lärm der Menschen anzukommen. Die Straßen waren aus ungleichmäßigem Kopfsteinpflaster und wenn Charlotte sich konzentrierte, konnte sie Geräusche von Rädern herausfiltern, die über die Straße polterten. Vermutlich Wagen, mit denen die Waren transportiert wurden. Dann mischte sich der markante Klang von Hufen in den Lärm. Jemand brüllte wütend und die Passanten stoben auseinander, um dem Lastenpferd Platz zu machen. Eilig zog Alexander das Mädchen auf den Bürgersteig. Hin zu einer Laterne, wo er mit ihr wartete, bis das Pferd vorbeigezogen war. Der Wagen hinter dem Tier war beladen mit schweren Metallteilen und es schnaufte und schüttelte immer wieder die verdreckte, schwarze Mähne.

Ohne es zu merken, ließ Alexander Charlottes Hand los und sie nutzte die Gelegenheit, um sich einige Schritte von ihm zu entfernen. Sie wollte das Tier sehen, sein schönes Fell, welches von Dreck bedeckt war. Nur ansatzweise, erahnte sie das helle Braun. Dafür sah man jede einzelne Rippe. Die harte Arbeit hatte das Tier ausgemergelt und dennoch schleppte es sich weiter vorwärts, obwohl seine Beine zitterten. Es brach dem Mädchen das Herz.

Auf einmal kam wieder Leben in die Menschenschar und Charlotte wurde von der Masse verschluckt. In der Menge verlor sie die Orientierung, wusste nicht mehr, aus welcher Richtung sie gekommen war, und sie sah Alexander nirgends. Panik stieg in ihr auf, während sie versuchte, den Bürgersteig zu finden und sich aus dem Strudel herauszuziehen. Dann erblickte sie Alex. Der junge Mann stand auf der Bank neben der Laterne und suchte nach ihr, als er sie sah, meinte Charlotte zu sehen, wie er erleichtert aufatmete.

So viel zu seinem Arschlochgehabe, dachte das Mädchen und fing an sich in seine Richtung vor zu kämpfen.

Die Menschen in diesem Viertel waren sehr geschäftig. Sie eilten hin und her, schoben ihre Wagen und erwarteten, von den Anderen ihnen Platz zu machen. Jemand wie Charlotte hätte damit eigentlich zurechtkommen müssen, immerhin war sie in einer Großstadt aufgewachsen und rücksichtslose Menschen gewohnt. Aber das hier war anders. Stressiger. Sie kam sich schlecht vor, weil sie nicht arbeitete und den Betriebsamen im Weg stand.

Auf einmal wurde sie zur Seite gestoßen und fiel zu Boden. Ein großer, breitschultriger Mann sah auf sie runter und blökte sie an, ob sie keine Augen im Kopf hätte. Über sein braungebranntes Gesicht zogen sich tiefe Narben und eines seiner Augen war milchig. Vor sich hin motzend schob er seine Schubkarre mit Ziegelsteinen vor sich her, während Charly sich wieder aufrappelte und sich weiter durch die Menge drängte. Eventuell musste sie einfach genauso rücksichtslos sein. Also Ellenbogen ausfahren und sich den Platz einfordern, den sie benötigte, um wieder bei der Laterne anzukommen. Amüsiert schaute Alex ihr dabei zu, bis er sich von der Straßenlaterne wegstieß und elegant durch die Menge schlüpfte, um sie einzusammeln.

Ehe sie es sich versah, griff er nach ihrer Hand und zog sie hinter sich her, bis sie das Arbeiterviertel verließen und langsam ins Innere der Stadt gelangten. Schlagartig änderte sich die Stimmung um sie herum. Zwar waren hier noch viel mehr Menschen, doch die Art wie sie sich bewegten, war eine andere. Es war diese Mischung aus Hektik und Entspannung, die Charlotte eher an ihre Welt erinnerte.

Ebene Straßen und Bürgersteige, zogen sich durch die Häuserschluchten. Keine Pflastersteine oder Schlaglöcher, die das Laufen erschwerten und einen Sturz wahrscheinlicher werden ließen. Was dem Mädchen dieses Mal jedoch auffiel, waren die hohen Bordsteinkanten. Sie tat einen großen Schritt, um auf den Bürgersteig zu gelangen. Darunter befand sich eine Öffnung, aus der warme, feuchte Luft zu steigen schien. Sie sah zu Alexander. Dieser wandte den Blick ab und schüttelte den Kopf.

»Später.«

»Aber …«

»Charlotte, bitte.«

»Ist gut.«

Sie liefen weiter. Charlys Augen huschten von einer Seite zur nächsten. Es gab so viele neue Eindrücke, dass sie meinte etwas zu verpassen, sobald sie woanders hinsah. Obwohl sie so oft im Traum hier gewesen war. Die Gebäude ragten über zig Stockwerke in den Himmel. Es gab verschiedene Ebenen, auf denen sich ebenfalls wieder Straßen befanden. Treppen, aus allem Möglichen zusammen geschustert, führten immer weiter nach oben. Charlotte erkannte Geschäfte und Bürogebäude. Sie sah diverse Luftschiffe und sogar Heißluftballons, die nicht zwangsläufig mit Gas oder Flammen gesteuert wurden. Manche hatten Flügel, die das Mädchen, ähnlich denen, die sich Heinrich für seine Maschine wünschte. Aber die schienen mehr der Zierde zu dienen. Enttäuschend.

Sprachlos ließ sie sich von Alex weiter ziehen und betrachtete die Menschen um sich herum. Sie trugen jetzt eher Alltagskleidung. Schöne Kleider oder Anzüge. Reifröcke und Rüschen, am Po weit nach außen geformt – nur waren sie verziert mit Gerätschaften aus Metall und Kinkerlitzchen aus Leder.

Aus einigen dieser Accessoires drang Dampf und wenn sie gerade nicht damit rechnete – also eigentlich nicht ein einziges Mal – wich das Mädchen erschrocken aus und warf Alexander dabei fast um. Dieser lachte nur und zog sie weiter. Für ihn war das hier nichts Besonderes.

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