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Leseprobe Lucia - Victorian Goddess

Aktualisiert: 26. Apr.

Episode 1 - Eine Todesgöttin in London

Bordeaux rotes Cover mit goldenen Verzierungen.
Ep 1, Cover

Autor: Alex Pudlich

Genre: Dark Steam Fantasy




Lucia.

Eine der sieben Töchter der Nyx.

Oliver lag auf seinem Sofa, mit einem kühlen Tuch auf den Augen und massierte sich die Schläfen. Sich einzureden, dass das alles mit dem Räucherwerk zusammenhing, half ihm, die Situation zu ertragen und mitzuspielen. Nicht mehr lange und die Wirkung würde nachlassen. Die Badewanne stand noch immer mitten im Salon. Das Wasser war in die Holzdielen gesickert, die bereits an mehreren Stellen aufquollen. Und die Todesgöttin, wie sie sich nannte, saß ihm gegenüber auf dem Sessel und blätterte durch das Buch, mit dem er das Ritual aufgebaut hatte. Sie suchte eine Möglichkeit wieder nach Hause zu gelangen. Behauptete sie.

Ihm hingegen brummte der Schädel.

Verdammte Kräuter, dachte er abermals. Jonas hätte mich ruhig warnen können.

Nach einer Weile klappte die Göttin das Buch geräuschvoll zu, wodurch sich ein stechender Schmerz durch seinen Kopf zog. Ein leises Stöhnen entfleuchte seinen Lippen, gefolgt von der Bitte, doch nicht zu laut zu sein. Darauf folgte lediglich ein Schnauben, was ihm verriet, dass sie nicht daran dachte Rücksicht zu nehmen.

»Nun, wie mir scheint, habe ich nur eine Option!« Stille. »Ich sagte …«

»Ich habe gehört, was Sie sagten, Miss«, erwiderte Oliver. Er nahm das Tuch von den Augen und setzte sich auf. Jede Bewegung löste eine Welle von Lichtblitzen in seinem Blickfeld aus. Er schloss die Augen, atmete tief ein und aus und öffnete sie langsam wieder. Das Licht der Lampen war gedimmt – immerhin – und dennoch schmerzte es. Der Puppenmacher ignorierte seine feuchten Handflächen und kalten Schweißtropfen, die seinen Nacken herabliefen. Er wandte sich ihr zu, strich sich die blonden Haare zurück und zuckte mit den Schultern. »Was ist nun Ihre einzige Option?«

Ihr Blick verfinsterte sich und sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Meine Mutter.«

Verblüfft öffnete er den Mund, schloss diesen aber noch einmal für einen Moment, um nach den richtigen Worten zu suchen. Derweil erhob sie sich und sah sich nachdenklich im Raum um. Zig Fragen formten sich in seinem Verstand aus. So viele, dass er nicht wusste, mit welcher ein beginnen sollte. Welche am wirklich wichtig war.

»Die Wanne muss auf jeden Fall raus. Damit kannst du schon einmal anfangen Sterblicher.«

»Oliver.«

»Wie bitte?«

»Mein Name … ich heiße nicht Sterblicher. Also ja, ich … ich bin sterblich, aber ich heiße Oliver.«

»Oliver …«, wiederholte sie mit einer Verachtung in der Stimme, die ihn einmal mehr zweifeln ließ, ob es wirklich nur am Räucherwerk lag. »Wie schön für dich. Zu dumm, dass mich das nicht im Geringsten kümmert. Jetzt hör mir zu … Oliver … du hast mich gerufen, scheinbar aus Versehen, und ich will nach Hause. Am besten schon gestern. Ich hatte Feierabend, nach einer sehr anstrengenden Woche und wollte einfach nur Ambrosia trinken und zur Ruhe kommen. Wenn es dir also nichts ausmacht, dann benötige ich schwarze Kerzen, einen Onyx und Styrax.«

Sie drehte sich zu ihm um. Als sich Oliver nicht regte, hob sie ihre eine Braue. »Na wird’s bald? Ich will das hier schnell erledigen, damit ich hier wegkomme.«

Der Puppenmacher erwiderte ihren Blick und verfing sich in der leeren Höhle. Je länger er in die gähnende Schwärze sah, desto sicherer war er sich, dass sich darin etwas bewegte. Es wirkte wie Schatten, die hin und her waberten und nur darauf zu warten schienen aus ihrem Gefängnis herauszubrechen und alles zu verschlingen, was sich ihnen in den Weg stellte. Einmal mehr schüttelte er sich und schob diese Vorstellung eilig beiseite, ehe er seine Stimme wiederfand und möglichst ruhig und gefasst erwiderte:

»Und wie wäre es mit einem ›Bitte‹?«

Ihre zwei goldenen Augen verengten sich einmal mehr zu schmalen Schlitzen. »Du erwartest von mir, dass ich dich bitte? Dass ich mich in eine unterwürfige Rolle begebe, die meinem Rang nicht im entferntesten entspricht?«

Oliver schnaufte. »Nein, ich erwarte etwas, das man allgemeinhin als Höflichkeit bezeichnet. Ich habe keine Ahnung Miss, welchem Drogenrausch ihr entspringt, oder wie lange dieser noch andauern wird. Doch in diesem Rausch habe ich das Sagen und ich verlange, dass Sie mir dieselbe Höflichkeit entgegenbringen, wie ich Ihnen. Dazu gehören auch die Worte ›Bitte‹ und ›Danke‹. Diese tun übrigens nicht weh und sorgen für eine deutlich bessere Zusammenarbeit, bis das hier vorbei ist.«

Lucia schnappte nach Luft und rang sichtlich um ihre Fassung. Und für einen Moment war sich Oliver sicher, dass sie ihn auf der Stelle vernichten würde. Doch stattdessen schloss sein Gast die Augen. Als sie diese wieder öffnete, nickte sie. »Natürlich. Du hast recht. Ich als Göttin, Erscheinung deines Drogenkonsums und Gast in deiner Welt, sollte mich bis zu einem gewissen Maß an eure Gepflogenheiten anpassen. Also würdest du mir die Güte erweisen und einen Onyx – am besten einen recht großen Stein – Styrax und schwarze Kerzen zu besorgen? Bitte!«

Das letzte Wort presste sie zwischen ihren Kiefern hervor, als würde es ihr Schmerzen bereiten. Und Oliver war sich sicher, dass, hätten Muskeln und Fleisch diesen Teil des Gesichtes bedeckt, er gesehen hätte, wie sie verkrampft lächelte. So aber war keinerlei Emotion zu erkennen. Nicht einmal in ihren Augen. Er erhob sich seufzend und verzichtete auf den Hinweis, dass es schon sehr unhöflich war, ihn zu duzen, obwohl er sie siezte. Schweigend durchquerte er den Salon.

»Ich bräuchte übrigens auch die Kreide, mit der du den magischen Kreis gezogen hast!«

Er rollte mit den Augen. »Liegt auf dem Tisch.«

Dann trat er in den Flur. Hinter sich hörte er das Kratzen der schweren Metallfüße, als sie die Wanne verschob. Sie zerkratzte ihm vermutlich gerade die Holzdielen. Aus einem Reflex heraus wollte er sich umdrehen und sie aufhalten, doch er hielt mitten in der Drehung inne und horchte in sich hinein. Die Dielen waren inzwischen eh nicht mehr zu retten und einen neuen Boden hatte er schon vorher gebraucht. Mit einem wiederholten Seufzen – ihm fiel auf, dass er heute Nacht nichts anderes tat – ließ er sie machen und betete inständig, dass sein Gast bis zum Morgengrauen fort war.

*

Im Flur hing die Apparatur an der Wand, die seit einigen Monaten die Haushalte im Sturm eroberte. Ein sogenanntes Telephon. Als die Erfindung vor zwei Jahren auf einer Messe vorgestellt worden war, hatte man sich für viel Geld auf eine Warteliste setzen lassen können. Ihm war damals nicht klar, wozu dies gut sein sollte, doch Jonas und Mary vertraten die Meinung, dass sie mit dem Fortschritt gehen mussten. Und so fingen vor etwa einem Jahr die Bauarbeiten vor seinem Haus an. Wenige Wochen nach dem Tod seiner Schwester.

Seitdem hatte er dieses Gerät nur ein einziges Mal genutzt und anschließend für unangenehm befunden. Jetzt stand er ein weiteres Mal davor und zögerte einen Augenblick. Es war mitten in der Nacht, doch er kannte Jonas, seine kleine Eule. Ein müdes Lächeln huschte über seine Lippen. Sein Freund zog die Nächte dem Tag vor und war mit Sicherheit noch wach. Er atmete tief ein und wieder aus, griff nach dem Fernhörer und hob ihn aus der Gabel und drehte einige Male an der Kurbel, die sich seitlich an der Apparatur befand. Dann wartete er, bis ein leises Knacken ertönte und sich eine weibliche Stimme meldete.

»Guten Abend, mit wem darf ich verbinden?«

Er zuckte zusammen. Die Stimme aus dem Apparat kam unerwartet und holte ihn allmählich in die Realität. Er stammelte die Worte, die er extra für solche Momente auswendig gelernt hatte. »G-guten A-abend. Ich m-möchte bi-bitte mit dem Anschluss von Sir Jonas Barrel, in der F-first Street sieben v-verbunden werden.«

Es folgte ein Gähnen, »Oh, entschuldigen Sie bitte. Dies ist meine zweite Nachtschicht in Folge. Wen darf ich anmelden?«

»Oh, sch-schon gut. S-sir Oliver Ames.«

»Ich verbinde Sie, Sir Ames.«

»Vielen Dank. Und ähm … gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Ein neuerliches leises Knacken unterbrach ihr Gespräch. Stille legte sich über die Leitung. Oliver wusste, aus der Zeitung, wie es in der Telefonzentrale in etwa aussah und versuchte, sein schlechtes Gewissen zu bändigen. Doch vor seinem geistigen Auge sah er die Frau müde und erschöpft vor der großen Stecktafel sitzen und seinen Sprechwunsch aus den fast siebentausend Anschlüssen, die es allein in London gab, heraussuchen. Ihm war bewusst, dass nicht selten dabei Fehler passierten, und er betete inständig, dass sie ihn richtig verband.

»Oliver?«

Jonas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er trat einen Schritt näher an den Fernsprecher. »Jonas entschuldige bitte die Störung. Ich hoffe, du hast nicht schon geschlafen?«

Ein leises Lachen beantwortete seine Frage und wischte die Unsicherheit ein wenig beiseite. »Oliver, du kannst normal reden. Du musst nicht brüllen. Ich höre dich laut und deutlich.« Die Hitze stieg in seine Wangen, während er eine Entschuldigung murmelte. »Schon gut. Was ist los? Ist etwas passiert?«

»Ähm nein.«

Ein erleichtertes Aufatmen. »Ist es wegen des Rituals? Hat es funktioniert?«

Oliver blickte Richtung Salon und seufzte einmal mehr. »Ich bin mir noch unschlüssig.«

»Wieso?«

»Nun … es lief nicht wie geplant. Sorgen diese Kräuter für Halluzinationen?«

Und dann fasste er kurz die vergangenen drei Stunden zusammen, in denen er das Ritual vorbereitet und anschließend aus Versehen eine Todesgöttin in ihre Welt gerufen hatte. Bis er zu dem Punkt gelangte, weswegen er überhaupt anrief. »Jonas, sie möchte offenbar ihre Mutter kontaktieren. Dafür braucht sie allerhand Sachen für ein Ritual – nehme ich jedenfalls an.«

»Verstehe … ich … Okay, also gehen wir einmal davon aus, dass das kein Drogenrausch ist, da du dich relativ klar anhörst. Was braucht sie denn?«

»Einen großen Onyx, Styrax und schwarze Kerzen.«

»Außerdem einen Ritualdolch und die Schriften des Teiresias!«, tönte es aus dem Salon.

»Was war das?«, fragte Jonas überrascht.

»Hast du das gehört?«, stieß Oliver entsetzt aus.

»Ja!«

»Das war mein ungebetener Gast«, erwiderte Oliver und strich sich die Haare abermals zurück und lachte etwas hysterisch. »Ja, also sie benötigt wohl einen Dolch und die Schrift eines Terisas …«

»Teiresias«, korrigierte ihn Jonas prompt. »Alter, griechischer Prophet. Ein Seher, der angeblich von Zeus und Hera zu Rate gezogen wurde, um eine Frage zu klären. Ich sollte … Ja, im Laden unten sollte es eine Abschrift davon geben. Ich werde die Sachen zusammensuchen und bin in etwa einer Stunde bei dir.«

Oliver hob eine Braue. »Auf einmal klingst du so … voller Eifer. Du hast mir nicht geglaubt oder?«

»Oh, ich glaube dir immer noch nicht so richtig«, gestand Jonas. »Aber Fakt ist: Da sitzt scheinbar eine Frau bei dir und ich bin doch neugierig und will sehen, wer zu der Stimme gehört. Bis nachher.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, legte Jonas auf. Oliver schüttelte den Kopf und steckte den Fernhörer wieder in die Gabel. Sein Blick wanderte zum Salon, dann Richtung Küche. »Das wird eine lange Nacht«, murmelte er und lachte einmal mehr, um seine Nerven zu beruhigen. Da saß tatsächlich jemand in seinem Salon. Jonas hatte sie gehört. Er befand sich nicht in einem Rausch. Wobei ihre äußere Erscheinung … »Ich koche Tee, dürfte ich Ihnen ebenfalls etwas anbieten.«

»Ambrosia!«

»Am-was?«

»Ambrosia«, wiederholte die Totengöttin und streckte den Kopf in den dunklen Flur. Ihre leuchtenden Augen stachen unheimlich aus der Schwärze der Nacht hervor und sorgten einmal mehr dafür, dass Oliver erschauderte und zurückwich. »So verwirrt, wie du mich ansiehst, stehen meine Chancen auf eine angemessene Verpflegung wohl nicht gut.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen höchstens Schwarztee, Wasser oder, sofern etwas Stärkeres gewünscht wird, Wein, Sherry oder Whisky anbieten.«

»Dann wähle ich den Sherry. Ihr Engländer könnt mir mit eurem Teegesöff fernbleiben!«

Damit verschwand sie wieder im Salon und ließ Oliver allein im Flur zurück. Dieser atmete tief ein. Guten schwarzen Tee als Gesöff zu bezeichnen, ging selbst in einem Rausch zu weit. Doch die Dauer ihres Aufenthalts würde bald ein Ende finden. Bis dahin sparte er sich seine Kommentare und zog es vor, seine Nerven zu schonen.

*

»Faszinierend!«

Jonas beugte sich zu Lucia runter. Er wirkte deutlich gefasster, als sein Freund, der immer wieder leise vor sich hin murmelte und beteuerte, dass das nicht wahr sein konnte. Derweil saß Lucia auf dem Sofa, einen Arm auf der Rückenlehne abgelegt und das Kinn darauf abgestützt und ließ sich von dem Neuankömmling bestaunen. Gelegentlich betrachtete sie ihre langen, gepflegten Nägel und deutete ein Gähnen an, um ihrer Langeweile Ausdruck zu verleihen.

»Und Sie sind eine Todesgöttin?«, fragte Jonas zum wiederholten Male und streckte die Hand aus.

»Wage es, mein Gesicht zu berühren, und du bist noch vor mir in meinem Reich!«

Er zuckte zusammen und nahm mit einem verlegenen Grinsen die Hand weg. »Entschuldigen Sie bitte. Aber so etwas habe ich noch nie gesehen, da war die Versuchung gerade … Okay. Ähm, wie genau läuft das Ritual ab? Wie können wir helfen?«

Lucia musterte ihn einen Augenblick und offenbar stellte das, was sie sah, die Göttin zufrieden. Jedenfalls nickte sie und erhob sich. Als Jonas ihr auswich und sich an ihrer Stelle auf dem Sofa niederließ, lief sie einige Schritte in den Raum hinein. Schließlich drehte sie sich zu ihm und Oliver um, welcher am Kamin stand, neigte den Kopf leicht zur Seite und säuselte mit honigsüßer Stimme:

»Es ist nett, dass du fragst. Tatsächlich hatte ich bereits überlegt, wie ich es anstellen sollte. Um Mutter zu rufen, benötige ich das Blut zweier Liebender, dass du gekommen bist, war also eine wahre Fügung des Schicksals.«

Dem jungen Mann entglitten sämtliche Gesichtszüge und er erbleichte. Doch Lucia lachte gehässig auf und murmelte anschließend etwas, was sich anhörte wie: »Die Leichtgläubigkeit der Menschen.«

Ohne ihn weiter zu beachten, baute sie das Ritual auf. Neben dem magischen Kreis, mit dem sie gerufen worden war, hatte sie bereits einen deutlich kleineren auf den Boden gezeichnet. In dessen Mitte legte sie eine Messingschale mit dem Styrax. Sie hockte sich vor den Kreis und nahm den Ritualdolch und stich sich damit in die Fingerkuppe ihres Zeigefingern. Somit begann das Ritual.

»Tochter des Chaos, aus dem wir alle geworden sind …«, hallte ihre Stimme durch den Salon. Wie gebannt sahen Oliver und Jonas dabei zu, wie sie die Kerze nahm, ihr Blut darauf verstrich und sich im Anschluss ein Streichholz nahm und die Kerze entzündete. »Mutter der Nacht, ich bitte dich, erhöre meinen Ruf. Als eine von den sieben Schwestern des Todes gebe ich mein Blut zum Pfand. Nyx, Herrin der Magie, Mutter der Keren, ich rufe dich in diese Welt.«

Sie entzündete das Styrax in der Schale.

»Nyx, Mutter, bitte erhöre meinen Ruf.«

Der schwere Duft des Räucherwerks verteilte sich im Salon. Oliver rümpfte die Nase und bedeckte diese mit seiner Hand. Am liebsten hätte er ein Fenster geöffnet, doch vermutlich hätte dies das Ritual gestört. Sehnsüchtig blickte er zu den Fenstern und wandte sich dann wieder dem Ritual zu. Gerade legte sie den Stein auf das Styrax.

»Nyx, ich rufe dich bei deinem Namen. Tochter des Chaos, Mutter der Magie und der Nacht. Mutter von uns Keren. Überschreite die Grenze und betritt diese Welt.«

Sie steckte die Kerze in den dafür bereitgestellten Kerzenhalter und legte die Hände auf den Schoß. Es wurde still. Wieder einmal diese Art von Stille, die einen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Oliver und Jonas sahen sich an, um sich zu vergewissern, dass sie beide dasselbe fühlten. Es kribbelte auf ihrer Haut. Die feinen Härchen im Nacken und an den Armen stellten sich langsam auf. In der Luft lag eine ungewohnte Spannung und die Flammen der Kerze und der Lampen zitterten. Dann erloschen sie.

Die Kreide, mit der sie den magischen Kreis gezogen hatte, begann zu leuchten. Eine glitzernde, violette Wolke stieg empor und verteilte sich nach und nach im Salon. Jonas und Oliver wichen hustend zurück. Die Fenster öffneten sich erneut von selbst und nachdem sich der Rauch verflüchtigt hatte, stand eine Frau in dem Kreis. Die Öllampen entflammten wieder und ermöglichten so den Blick auf die Neuangekommene. Ihre dunkle, violette Robe war mit silbernen Ornamenten verziert und ihr langes, schwarzes Haar fiel seidig glänzend über ihre nackten Schultern.

Lucia blickte zu ihr hinauf und erhob sich, um sich angemessen zu verbeugen. »Mutter, ich danke Euch, dass Ihr …«

»Schweig!«

Die jungen Männer zuckten zusammen und die Todesgöttin verstummte sofort. Hatte sie bis eben noch arrogant und erhaben gewirkt, war davon jetzt nicht mehr so viel übrig. Sie erinnerte mehr an ein eingeschüchtertes Kind, welches mit einem Brief vom Lehrer nach Hause geschickt worden war. Oliver kam nicht umhin, eine gewisse Schadenfreude zu verspüren, zwischen all dem Chaos in seinem Verstand.

»Wie ich sehe, hast du dich in eine ungünstige Lage gebracht, Tochter.«

»Ja, aber das war nicht meine …«

»Ich habe dir nicht gestattet zu sprechen!«, unterbrach die Frau Lucia donnernd. Oliver zuckte zusammen und stellte sich vor, wie die Stimme der Frau durch die Straßen hallte und die Nachbarn weckte. Wie sollte er das erklären? Plötzlich wandte sich die Frau direkt an ihn. »Und du … wie ist dein Name?«

Der Puppenmacher stand augenblicklich kerzengerade da und verneigte sich aus einem Reflex heraus. »Oliver Ames, Ma’am.«

Lucia schnaufte, doch als Oliver den Blick hob, war die strenge Miene des Gastes einem sanften Lächeln gewichen. Sie neigte den Kopf zum Gruß. »Oliver Ames, man nennt mich Nyx. Ich bin die Göttin der Magie und Hüterin der Nacht. Und du hast eine meiner Töchter beschworen. Du hattest deine Schwester sprechen wollen, habe ich recht?«

Er nickte. »Ja. Eure Tochter zu beschwören, war nicht mein Plan gewesen.«

»Deine Schwester starb vor einiger Zeit, richtig?«

»Vor etwa einem Jahr, ja. Es war ein Unfall. Ich hatte mich von ihr verabschieden wollen.«

Sie lachte leise und strich sich die Haare zurück. »Ihr Menschen neigt dazu das falsche Ritual zu wählen. Du bist nicht der Erste, dem dieser Fauxpas passiert. Dennoch muss ich dich darauf hinweisen, dass das Beschwören der Toten keine Kleinigkeit darstellt. Es ist ein Eingriff in das Gefüge der Welten. Ein direkter Angriff auf das Gleichgewicht. Es ist besser, dass es nicht funktioniert hat. Und … bevor du mich unterbrichst … deine Schwester bat mich, dir etwas auszurichten. Sie ist glücklich. Dort wo sie ist, ist sie nicht allein. Sie hat keine Schmerzen. Keine Sorgen. Und sie freut sich auf jenen Tag, wenn ihr euch wiederseht. Wenn deine Zeit gekommen ist. Nach einem langen und glücklichen Leben.«

Eine Träne rann die Wange des Puppenmachers entlang. Etwas in dem Klang ihrer Stimme sorgte dafür, das, was gerade passierte, als real zu akzeptieren. Er nickte und suchte nach den richtigen Worten. Doch Nyx hob kopfschüttelnd die Hand und wandte sich ihrer Tochter zu. Sogleich wurde ihr Blick wieder kühl und ernst. »Und was dich anbelangt. Du hast mich gerufen, damit ich das Portal in dein Reich öffne, nehme ich an?«

»Ja, Mutter. Ich würde gerne zurückkehren.«

Auf Nyx Lippen trat ein süffisantes Lächeln. »Ach, ist dem so? Nun, dann muss ich dich leider enttäuschen.« Unglauben trat in Lucias Blick. »Ich denke, dass es dir guttäte, wenn du ein wenig in der Welt der Menschen bliebest und etwas von ihnen lernst.«

»Von ihnen … lernen?«

»Ja. Das wäre sicherlich ein Gewinn für deine Arbeit, als Göttin des Todes.«

»Was soll ich denn bitte von den Sterblichen lernen?«

Lucia sprach ruhig. Blinzelte gelegentlich. Doch Oliver spürte, wie ihre Wut die Luft zum Vibrieren brachte und wich noch ein wenig von den beiden Frauen weg. Sein Blick fiel auf die Tür und er fragte sich, ob er und Jonas es wohl unauffällig hinaus schafften. »Die Menschen sind erbärmlich. Was soll eine Göttin wie ich, von ihnen …«

»Demut!«

»Bitte?«

»Du hast mich schon verstanden, Lucia. Du hast dich zu lange auf deiner Position als Göttin ausgeruht und hast verlernt, dem Tod mit Respekt zu begegnen. Du siehst es als Arbeit und nicht als Aufgabe. Dies ist deine Chance wieder zu dir selbst zu finden. Nutze sie, denn sonst …«

Nyx hob die Arme und hinter ihr erhob sich eine neuerliche Rauchwolke, in welcher eine goldene Tür mit einer Rose erschien. Um diese wanden sich schwere Ketten, zusammengehalten von einem Schloss.

»… wird die Tür zu deinem Reich auf ewig verschlossen bleiben und du gezwungen sein, ein sterbliches Leben zu führen!«

»Das kannst du nicht machen«, stieß Lucia aus.

»Ich kann und ich habe! Lucia, sammel mir einhundert Seelen, derer, für die du verantwortlich bist …«

»Nichts leichter als das«, entgegnete die Todesgöttin unbeeindruckt. »Dann geh ich halt in ein Kinderkrankenhaus und du hast deine hundert Seelen bereits morgen!«

Nyx Augen verengten sich und färbten sich schwarz. Die Rauchschwaden umspielten ihre Beine, krochen dann zu ihrer Tochter und stiegen an dieser empor. Lucia schrie auf.

»Nein! Mutter!«

»Lucia, nutze deine Chance! Einhundert reine Seelen, deren Leben verwirkt ist – egal was sie tun. Eine pro Woche. Und nie vom selben Ort!«

Während sie sprach, überzog Haut die Knochen der Todesgöttin. Das Gold in ihren Augen färbte sich zu einem hellen Blau und das dritte verschwand. Vor ihnen stand ein Mensch. Eine junge Frau, kaum älter als zwanzig. Erschrocken griff diese nach ihrem Gesicht und fiel schreiend auf die Knie. Die Rauchschwaden verzogen sich. Nyx wandte sich an den Hausherrn, welcher sich mit dem Rücken an die Wand drückte.

»Ich möchte dich und deinen Gefährten bitten, euch meiner Tochter anzunehmen. Zeigt ihr diese Welt und was das Leben ausmacht. Denn nur, wer das Leben zu schätzen weiß, kann den Toten Respekt erweisen.«

Er nickte stumm. Unfähig etwas zu sagen oder zu widersprechen. Sein Gegenüber lächelte und löste sich auf. Zurück blieben zwei verängstigte Männer und eine Frau, die weinend am Boden saß. Olivers Blick wanderte zu ihr. Er zitterte am gesamten Körper und konnte sich sonst nicht bewegen. Als allmählich die Erkenntnis in seinen Verstand sickerte, was die Bitte und der Auftrag der Göttin bedeutete hätte er es Lucia am liebsten gleichgetan und bitterlich geweint.

So hatte er sich das Ganze wirklich nicht vorgestellt.

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