Leseprobe Clavis ad Astra
- Alex Pudlich
- 6. Feb.
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 26. Apr.

Episode 1 - der Schlüsselmacher
Autor: Alex Pudlich
Genre: Dark Portal Fantasy
»Am Anfang war das Nichts. Und in diesem existierte ein Gott, der den Namen Chaos trug. Er lebte über Jahrhunderte und Jahrtausende in völliger Einsamkeit. Ohne die Sonne und das Licht. Ohne die Erde und den Himmel. In der unendlichen Leere und Dunkelheit. Bis er dessen überdrüssig wurde und die Erdgöttin Gaia und ihre Geschwister gebar.
Dies sollte der Beginn von allem sein, was uns heute vertraut ist. Denn die Göttin wuchs heran. War voller Kraft und Leben. Laut den Erzählungen wurde sie breiter und umschloss die unermesslichen Weiten in ihrer liebevollen Umarmung. Aus ihr wurde später die Welt der Menschen geboren. Chaos fuhr fort, damit, den Kosmos zu füllen. So entstanden mein Bruder Tartaros und ich, die Nacht. Unser Vater erschuf Erebos, die Personifikation der Finsternis. Aber auch Eros, die leidenschaftliche Liebe.
Und nachdem dies getan war, half er unserer Schwester, die Welt der Menschen zu erschaffen.
Gaia gebar die Liebe und damit die Göttin, die die Schönheit des Lebens brachte. Sie wart die Mutter des endlosen blauen Himmels, der Berge, der Meere und zahlreicher Götter. Der mächtigste unter ihnen, der Himmel selbst, nannte sie Uranus. Er hüllte die Erde in seinen blauen Mantel und sein goldener Thron wurde von vielfarbigen Wolken getragen. Von hier aus herrschte er über die Welt und alle Götter. Uranus heiratete schließlich Gaia und zeugte mit ihr nicht nur zahlreiche göttliche Nachkommen, sondern auch die zwölf Titanen – sechs männlichen und sechs weiblichen Geschlechts.
Sie erhielten die Namen Kronos, Koios, Kreios, Hyperion, Iapetos, Atlas, Menoitios …«
»Kronos war doch böse, oder?«
Ein Lächeln huschte über das sanfte Gesicht der Frau an der Kanzel. Sie sah hinab in einen Saal, gefüllt von jungen Anwärtern ihrer Bildungsstätte. Den Schlüsselmachern, die von ihr berufen waren, das Gleichgewicht des Kosmos zu erhalten. Sie alle waren in die Akademie der Sterne gekommen, um das Wissen zu sammeln, und für nachfolgende Generationen zu bewahren. Und Nyx war für jeden Einzelnen verantwortlich. Als Erbauerin und erste Schlüsselmacherin.
»Nein, Kronos war nicht böse. Nicht in dem Sinne, wie wir dieses Wort heute gebrauchen. Ehrgeizig, ja. Und er gierte nach der Herrschaft. Er sehnte sich danach, den Platz seines Vaters einzunehmen und über die Götter zu regieren. Und als sich, dank meiner Schwester, ihm die Chance dazu bot, hat er sie ergriffen. Er verwundete Uranus so schwer, dass dieser nicht mehr in der Lage war zu herrschen, bestieg seinerseits den goldenen Thron und wurde von seinem Vater verflucht, auf dass seine Kinder sich ihm gegenüber so verhielten, wie er es tat.
Und ich gebar, um den Fluch zu seiner Erfüllung zu verhelfen, den Tod, den Betrug, den Alptraum, die Zwietracht, die Rachsucht und so viele andere. Doch hatte ich nicht damit gerechnet, dass die Furcht in Kronos dazu führen würde, dass er seine Gemahlin Rhea zwingen würde, ihm ihre gemeinsamen Kinder zu bringen, damit er sie verschlang.«
»Aber warum hat Gaia ihm geholfen? Sie war doch die Mutter der Welt.«
Nyx nickte und lehnte sich auf die Kanzel. »Und sie ist zudem die Mutter der Titanen. Und sie liebt ihre Kinder. Wie die meisten Eltern – egal, was diese anstellen. Daher half sie später Rhea dabei, einen ihrer Nachkommen vor Kronos zu retten. Zeus. Und dieser befreite seine Geschwister und gemeinsam verbannten sie, nach Jahrzehnten des Krieges, die Titanen.«
»Und Gaia hat das unterstützt?«
Ein kleines Mädchen, mit dem Gesicht eines Fuchses, schaute mit ihren großen dunklen Augen zu der Göttin empor, welche einen Moment in sich ging, um zu entscheiden, wie weit sie mit ihrer Erzählung gehen wollte. Ursprünglich hatte sich die Stunde um die Entstehung der Akademie drehen sollen, doch anders als die Jahrgänge zuvor, stellte sich diese Klasse als äußerst wissbegierig heraus. Sie sehnten sich nach mehr. Wollten verstehen. Und sie begrüßte diesen Umstand. Daher schüttelte Nyx den Kopf.
»Meine Schwester sah voller Zorn, wie ihre Kinder in den Tartaros verbannt wurden und ihre Söhne Atlas und Kronos gesonderte Strafen erhielten. So muss Atlas den Himmel halten, nachdem dort so viele Kämpfe stattfanden und ihn fast zerstört hätten. Und Kronos wurde von seinem Sohn Zeus nach Elysion gebracht. Im Anschluss übernahmen er und seine Geschwister die Herrschaft über die Götter und gründeten den Olymp. Er bekam den Himmel, Poseidon das Meer und Hades die Unterwelt. Und sie wurden zu unseren Beschützern. Den ersten Wächtern.
Doch meine Schwester gab sich ihrem Zorn hin und gebar, mit Tartaros an ihrer Seite, die Giganten. Diese stachelte sie solange gegen ihre Enkel auf, bis diese sich zum Olymp begaben und die neuen Herrscher herausforderten. Sie wurden besiegt. So wie auch spätere Nachkommen der beiden. Typhon zum Beispiel.« Nyx seufzte und blickte einen Moment in die Ferne, ehe sie fortfuhr. »Gaia hasste den Himmel und seine Herrscher und wandte sich immer wieder aufs Neue gegen diese. So lange, bis sie plötzlich verschwand.«
»Wohin ging sie?«
»Ist Kronos immer noch in Elysion?«
Die Fragen schwirrten durch den großen Saal, welche sie schließlich durch eine simple Handgeste zum Verstummen brachte. Nachdem sich die Stille über die Schüler gelegt hatte, sprach die Göttin weiter.
»Wir wissen es nicht. Kronos gelang die Flucht aus Elysion. Angeblich dank Gaia. Doch Zeus soll seinen Vater dieses Mal getötet haben. Dafür gibt es jedoch keinerlei Beweise. Aber seitdem hat niemand mehr etwas von ihm gehört und sogar meine Schwester verschwand mit der Zeit, ohne das je einer von uns herausfand, wohin.«
Ein Raunen ging durch den Saal. Sie blickte in verängstigte Gesichter und wünschte, sie könnte diese beschwichtigen. Ihnen Mut zusprechen und versichern, dass alles gut werden würde. Aber dazu war sie nicht in der Lage, schwelte doch selbst in ihr die Furcht vor einem neuen Krieg. Eine Bewegung neben ihr erregte ihre Aufmerksamkeit und als sie zur Seite sah, stand das Fuchsmädchen dort und blickte zu Boden, wo es mit ihren Füßen auf dem Stein scharrte. Nyx trat von der Kanzel und kniete sich vor dem Mädchen hin.
»Hast du noch eine Frage?« Sie nickte und sah auf. Die Göttin lächelte. »Dann stell sie. Ich werde versuchen, sie zu beantworten.«
Zögerlich sah das Kind zu den anderen im Saal, die nun wie gebannt zu ihnen aufblickten. Es brauchte einen Moment, ehe es allen Mut zusammennahm und seine Frage stellte: »Ihr sagtet, dass Gaia die Mutter der Erde ist. Aber was ist mit unseren Welten? Und wo sind wir?«
Die Göttin stutzte und dann wurde ihr Lächeln breiter und wuchs zu einem Grinsen heran. »Das ist eine schöne Frage, die mich zu dem eigentlichen Thema zurückführt«, sagte sie und richtete sich wieder auf, um an die Kanzel zu treten. »Die Entstehung, der Akademie der Sterne und warum ihr, die Schlüsselmacher, über das Schicksal aller Welten bestimmt.«
*
Einige Jahre Später.
Nyx wanderte durch die langen Gänge der Akademie. Eine unheimliche Stille hatte sich über diese gelegt und selbst die Decke, welche immer den sternenbehangenen Nachthimmel zeigte und durch diesen die Flure und Hallen erhellte, hatte sich verdunkelt. Dichte Wolken waren aufgezogen. Zwischen ihnen schoben sich in immer kleiner werdenden Abständen Blitze hindurch. Die Göttin der Nacht blieb stehen und sah dem Spektakel einen Moment zu. In ihr wuchs die Sorge heran, dass der Akademie der Sterne ein Unheil bevorstand. Doch sie vermochte nicht mit dem Finger darauf zu zeigen.
»Nyx?«
Sie zuckte zusammen und drehte sich zu dem Ursprung der Stimme. Ein junger Mann stand vor ihr. Ein vertrautes Gesicht, in fremder Gestalt. Sie brauchte einen Augenblick, um ihn zuzuordnen, doch dann huschte ein Lächeln über ihre Lippen. »Hades, was treibt dich in die Hallen meiner Akademie?«
Sein Blick wurde ernst. »Deine Schwester. Und dein Neffe.«
Nyx Miene verfinsterte sich. »Hat man sie also gefunden?«
Der Gott der Unterwelt schüttelte die dunklen Locken. »Doch ein Flüstern zieht durch den Kosmos. Es wandert von Welt zu Welt.«
»Gerüchte also!« Nyx wollte erleichtert klingen, dies gelang ihr aber nicht. Dass einer der Söhne ihres Neffen gekommen war, bedeutete nichts Gutes. »Seit wann geben wir etwas auf flüsternde Stimmen, die das Unheil vorhersagen?«
Er hob eine Braue. »Haben uns diese je getäuscht? Nyx, falls an den Gerüchten was Wahres dran ist, dann will jemand den Schlüssel nach Elysium. Irgendwer sucht Kronos.«
Ihr Mund wurde trocken. »Nur gut, dass es meine Gabe braucht, um an ihn heranzukommen.«
»Nyx …«
Sie hob abwehrend die Hand. »Genug. Der Schlüssel ist hier sicher. Er kann nur von dem genutzt werden, der mit meiner Gabe geboren wird. Und glaube mir, das wird niemals passieren. Nicht, solange du mein Wächter bist.«
Hades setzte zu einer Nachfrage an, doch ein Donnern ließ ihn verstummen. Die Wände der Bildungsstätte erzitterten und von überall waren die Stimmen ihrer Bewohner zu hören, die aus ihrem friedlichen Schlaf gerissen wurden. Nyx und Hades tauschten entsetzte Blicke aus. Jemand griff die Akademie an und der Gott zögerte, doch ein Flehen hatte sich in ihre sanften Züge gelegt, sodass sie die Frage nicht auszusprechen brauchte. Hades blieb an ihrer Seite und würde versuchen, die Hallen von innen zu verteidigen.
Die Akademie der Sterne wurde vom Blut der Schlüsselmacher und ihrer Wächter getränkt. Bis Nyx nur noch einen Ausweg sah, um den Schlüssel nach Elysium zu beschützen. Sie opferte sich selbst und bannte alles Leben aus den heiligen Hallen. Dies war die Nacht, in der die Akademie fiel und ihre Tür auf ewig versiegelt wurde. Niemand sollte sie je finden und öffnen. Es sei denn, dass Nyx Gabe in einem ihrer Nachfahren erwachte.
Dem Clavis ad Astra.
Dem Schlüssel zu den Sternen.
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