top of page
AlexPudlich-SteamAngel - Mockup 1.jpg

Steam Angel - Das Mal

Was würdest du tun, wenn wie aus dem Nichts ein Zug vor dir erscheint? Wenn der Junge aus deinen Träumen dir die Hand reicht, um dich in eine andere Welt zu geleiten? Würdest du einsteigen, deine Heimat und dein altes Leben hinter dir lassen? 

​

Vor dieser Entscheidung steht die sechzehnjährige Charlotte, als der Gunslinger Express vor ihr einfährt und sie dem Jungen aus ihren Träumen gegenüber steht, der sie auffordert einzusteigen. Doch ihre Wahl hat fatale Folgen. Für sie und die Menschen in der anderen Welt. Denn der Zug bringt sie nach Barston. Dort droht ihr, als von Geburt an mit dem Mal der Engel Gezeichneten, der Tod. 
Es beginnt ein Versteckspiel, welches sie immer tiefer in die Abgründe der Gesellschaft führt. Zum Glück sind da noch Alexander und seine Freunde, die bereit sind alles zu tun, um sie zu beschützen. Auch wenn sie dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen.

  • Facebook
  • Twitter
  • LinkedIn
  • Instagram

Leseprobe, Kapitel 20 "Der Garten"

»Und was vermisst du am Meisten?«

»Sushi!«

Die Antwort kam schnell und so unerwartet, dass Charlotte ungläubig blinzelte. Sie stand mit Sam an der Brüstung, die sie vom Hafen trennten. Unter ihnen eilten Hafenarbeiter geschäftig zwischen großen Containern hin und her, welche nur im Entferntesten an die Metallmonster aus ihrer Welt erinnerten. Sie brüllten sich Befehle zu und wenn der Wind ihre Worte zu den beiden trug, schmunzelte das Mädchen über die schnoddrige Ausdrucksweise. Ursprünglich hatte Alexander ihr den Hafen und das Meer zeigen wollen, doch sie hatte explizit um die Gesellschaft von Samuel gebeten. Weil er aus ihrer Welt stammt.

»Also mir würde so einiges einfallen, aber Sushi wäre jetzt nicht dabei gewesen«, meinte sie und schüttelte den Kopf. Der Wind trug salzige Luft zu ihnen. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und blickte hinaus aufs Meer.

»Wieso?«, fragte Sam. »Magst du kein Sushi?«

»Doch klar«, erwiderte sie und lachte leise. »Aber es ist nur Essen.«

»Okay«, sagte der junge Mann. »Was vermisst du bisher?«

»Eine ordentliche Dusche.« Stille. Sie schielte zur Seite und grinste. Nun war es Samuel, welcher verdutzt dreinsah. »Noch nicht darüber nachgedacht? Eine Dusche wäre so unglaublich erfüllend. Also eine, bei der die Rohre nicht klingen, als würde man sie dabei aus der Wand reißen.«

»Oder bei der das Wasser nach ein paar Minuten so eisig wird, dass man glaubt, nackt am Nordpol zu stehen.«

»Nur, um Sekunden später wie ein Hummer gekocht zu werden.«

Die beiden seufzten und ließen die Köpfe hängen. Es waren Kleinigkeiten, die in ihrer Welt und in ihren Leben so alltäglich gewesen waren, dass sie erst jetzt erkannten, welchen Luxus sie verloren hatten. Und da war noch so viel mehr. Musik zum Beispiel. Seit ihrer Ankunft gab es lediglich die Geräuschkulisse vom Clubhaus und der Stadt. Es gab keine Straßenmusiker, die an den Ecken standen, ihre Lieder zum Besten gaben und auf ein paar Spenden hofften. Und selbst aus den Gebäuden drangen höchstens die Stimmen der Bewohner.

Und wenn man die hörte, handelte es sich meist nicht um angenehme Geräusche. Eigentlich nur Gekeife, Gebrüll und Gepolter. Darauf konnte Charlotte im Allgemeinen verzichten. Aber Musik? Dieser Verlust ließ ihr das Herz schwer werden. Gelegentlich summte sie leise vor sich hin, bis sie die Blicke der Journalisten auf sich spürte und direkt wieder verstummte. Sie knabberte an ihrer Unterlippe, ohne zu bemerken, dass Samuel sie, seit einer Weile, beobachtete.

»Wollen wir langsam wieder reingehen oder möchtest du den Hafen aus der Nähe sehen?«

Sie zuckte zusammen und sah ihn fragend an, bis seine Frage doch noch ihren Verstand erreichte und sie darüber nachdachte.

»Also, wenn ich die Wahl habe«, sagte sie. »Würde ich gerne runter zum Hafen. Ich möchte mir die Schiffe aus der Nähe ansehen. Ist das okay?«

»Klar«, versicherte der Journalist und grinste breit. »Sobald wir zurückgehen, muss ich wieder arbeiten. Also können wir uns gerne Zeit lassen.«

»Hast du denn noch viel zu tun?«

»Nein«, meinte er. Doch Samuel gehörte nicht unbedingt zu den Menschen, die Charly als gute Lügner bezeichnete. Er wich ihrem skeptischen Blick aus und deutete zu einer Treppe. »Da kommen wir nach unten. Also komm und bleib ja bei mir. Wenn ich dich verliere, bringt Alexander mich um.«

»Gott, der soll sich mal einkriegen«, murmelte Charlotte und folgte ihrem Begleiter, der sich in Bewegung gesetzt hatte und nun leise lachte. »Der tut so, als wäre ich ein Kleinkind. Dabei bin ich durchaus in der Lage zurück zum Clubhaus zu finden.«

»Er sorgt sich doch nur.«

»Der will die Kontrolle nur nicht abgeben«, bemerkte sie mit einem säuerlichen Ton in der Stimme. »Mehr ist das nicht. Dem passt es nicht, dass ich meinen eigenen Kopf habe und mich weigere dauernd ja und Amen zu sagen.«

»So wie wir?«, fragte Samuel.

»Ja.« Sie blieb stehen. »Sorry, so habe ich das nicht gemeint.«

»Doch hast du«, erwiderte der Andere, blieb ebenfalls stehen und drehte sich zu ihr um. »Und ich kann nicht einmal was dagegen sagen. Wir tun ja brav, was er sagt, und nicken alles ab. Genau wie er das oftmals machen muss, wenn er über etwas berichten will. So ist das nun einmal in Barston und wir finden das alle zum Kotzen.«

»Aber es geht nicht anders«, sagte Charlotte und seufzte schwer.

»Nein«, stimmte ihr Samuel zu. »Aber mir ist in den letzten Tagen aufgefallen, dass die Stimmung extrem am Kippen ist, seit dem du hier bist.«

»Wie meinst du das?«

Samuel sah sich einen Moment um, als wollte er sichergehen, dass ihn niemand außer ihr hörte. Dann führte er seinen Gedanken näher aus. »Seit der Sekunde, in der du den Zug bestiegen hast, eskaliert die Lage in Barston«, sagte er. »Das soll jetzt kein Vorwurf sein, versteh mich da bitte nicht falsch. Wenn es nach mir ginge, hätte das gerne deutlich eher passieren können. Am besten vor meiner Ankunft. Aber die Rebellen haben einen Verräter unter sich? Karin und ein paar Kinder werden trotz Zeugen erschossen? Anschläge in den Straßen? Das ist doch alles kein Zufall mehr.«

Charlotte hörte ihm nachdenklich zu und nickte immer mal. Dann lehnte sie sich an das Geländer und schaute zum Himmel, wo Möwen ihre Kreise zogen.

»Sorry Charly«, murmelte Sam.

»Du hast Recht.«

»Wie bitte?«

»Ich sagte, du hast Recht«, wiederholte sie. »Wenn ich dich das so aufzählen höre, dann ist das wirklich verdächtig viel, was plötzlich passiert. Dafür dass hier Jahre lang nichts geschehen zu sein scheint. Und mich macht das ehrlich gesagt ein bisschen nervös.«

»Na frag mich mal«, murrte der junge Journalist und nickte zur Treppe. »Lass uns weitergehen. Für meinen Geschmack haben wir genug ernste Themen angesprochen und ich will eigentlich mal den Kopf ein bisschen frei bekommen. Nur deswegen habe ich zugestimmt, dich zu begleiten. Nichts für ungut.«

»Ach, wolltest du nicht mit einem süßen Mädchen wie mir allein sein?«, fragte Charlotte frech und ging mit ihm weiter.

»Nichts interessiert mich weniger.«

»Verstehe«, sagte Charly und lachte leise.

Sie erreichten die Treppe, gingen nach unten und befanden sich kurz darauf mitten im Geschehen. Der Trubel hüllte die beiden ein und Samuel ergriff sofort die Hand des Mädchens und zog sie dicht an sich, während sie sich zwischen den Arbeitern vorwärtsdrängten. Charlotte wurde angerempelt, ihr Herz raste und sie klammerte sich an ihren Begleiter, der aufmunternd ihre Hand drückte und sie durch die Menge lotste. Die Arbeiter brüllten durcheinander, nur Fetzen ihrer Befehle erreichten den Verstand des Mädchens. Doch die Hafenarbeiter schienen sich wunderbar zu verstehen. Vermutlich waren die Abläufe so eingespielt, dass es kaum Verständnis brauchte.

»Mein Gott ey, besteht diese Stadt eigentlich nur aus Kontrasten, die überall aufeinander prallen?«, schnaufte sie und drückte sich dichter an Samuel.

Dieser lachte leise. »Wird gleich besser«, versicherte er und führte sie weiter. »Auf dieser Seite des Hafens sind halt die ganzen Lagerhallen. Und auch die Rampen, über welche die Waren in die Stadt oder aus der Stadt raus gebracht werden. Das verteilt sich jetzt nach und nach auf den gesamten Hafen.«

Und er sollte recht behalten. Sie drängelten sich einige Minuten durch das Getümmel und Charlotte konnte dabei zusehen, wie immer mehr Platz um sie herum entstand. Das Gewirr aus Stimmen entwirrte sich und ihre Nerven beruhigten sich allmählich. Jetzt konnte sie auch die Menschen mustern, die hier hin und her eilten und die riesigen Holzschiffe beluden. Aus Büchern und Filmen kannte sie Hafenarbeiter als kräftige Männer, deren Haut von der vielen Arbeit an der frischen, salzigen Meeresluft und in der Sonne gegerbt war. Sie hatten eine Alkoholfahne und schleppten schwere Säcke und Fässer ohne große Mühen.

Dieses Bild stimmte nur zum Teil, wie sie nun feststellte. Denn nicht nur Männer schufteten hier am Hafen. Sie sah muskulöse Frauen, die riesige Säcke schulterten und entspannt die Frachtrampen nach oben trugen. Zum Teil sogar mehr als einen davon auf einmal. Charlotte war beeindruckt. Dann ließ sie ihren Blick über den Hafen schweifen und schaute hoch zu den Schiffen. Sie sahen anders aus, als alles, was sie aus ihrer Welt kannte. Natürlich gab es die klassischen Schiffe, die an jene erinnerten, mit denen auch schon Christopher Kolumbus gesegelt war. Doch es gab welche, an deren Seiten Flügel angebracht worden waren.

»Wozu ...«

»Ich habe keine Ahnung«, würgte Samuel sie direkt ab. »Ohne Witz ... ich habe mich das schon so oft gefragt.«

»Hast du denn nie jemanden von hier angesprochen?«, fragte Charlotte und sah in sein entsetztes Gesicht. »Offensichtlich nicht. Gut, komm ... wir fragen jemanden.«

»Charlotte nicht!«

Zu spät. Die Sechzehnjährige hatte seine Hand losgelassen und steuerte direkt auf eines der geflügelten Schiffe zu. Sie wurde von ihrer Neugierde gelenkt und dachte nicht an die Gefahren, die ein solcher Alleingang mit sich bringen konnte. Sam eilte ihr nach, flehte sie immer wieder leise an, dass sie das lassen solle. Dann stand sie vor einer uniformierten Frau. Ihre Züge waren hart, das Haar lose zusammengebunden und zwischen ihren spröden Lippen hing eine schön gearbeitete Pfeife.

»Entschuldigen Sie bitte«, sprach Charlotte sie höflich an. Die Frau blickte auf und zog eine Braue hoch. Charly deutete auf das Schiff hinter ihr. »Sind Sie der Kapitän dieses Schiffes?«

»Wer will das wissen?«, raunte die Frau und nahm die Pfeife aus dem Mund. Ihre Stimme war deutlich sanfter als erwartet und passte so gar nicht zu ihrem rustikalen Äußeren. »Kinder wie du haben hier nichts zu suchen! Geh nach Hause zu Mami und Papi.«

Samuel trat neben sie. »Komm Charly«, flüsterte er und wollte ihre Hand nehmen.

Doch das Mädchen entzog sich ihm und lächelte die Frau an. »Ich wollte Sie nicht stören, aber ich bin das erste Mal hier am Hafen und interessiere mich für den sonderbaren Aufbau des Schiffes und ich dachte Sie könnten mir womöglich eine sinnvollere Erklärung als mein Begleiter hier geben.«

Die Frau starrte sie an. Charlotte hielt ihrem Blick stand und wartete geduldig. Schließlich schien die Dame einzusehen, dass sie den Teenager nicht so einfach los wurde. »Gut«, schnaufte sie daher barsch. »Was willste wissen?«

»Diese Flügel«, sagte Charly und deutete auf die Anbauten. »Wozu dienen sie? Das Schiff wird damit ja wohl kaum einfach losfliegen? Oder doch?«

Einen Augenblick trat etwas Ungläubiges in den Blick der Frau, dann lachte sie plötzlich und schüttelte den Kopf. »Ne du«, sagte sie, als sie sich gefangen hatte, und erhob sich. Sie trat neben Charlotte und deutete auf einen der Flügel. »Wenn ihr genau hinseht, dann könnt ihr sehen, dass die äußeren Kanten mit einem dünnen Metall verstärkt sind. Das ist eine Klinge.«

»Eine Klinge?«, keuchte Samuel. »Aber wofür?«

»Na Junge«, sagte die Frau. »Was meinste wohl? Wir schippern hier mit Waren über das Meer, die mehr wert sind als dein Leben. Denkste die wollen wir uns von Piraten abluchsen lassen? Ne ne. Wenn ein feindliches Schiff näher kommt, lernt es als erstes diese Rasiermesserchen an den Seiten kennen.«

»Also ist das eine Verteidungsmaßnahme«, staunte Charlotte und betrachtete weitere Schiffe, mit solchen Anbauten. »Sind die alle aus derselben Reederei?«

Ein breites Grinsen zog sich über das Gesicht der Frau. »Gut erkannt Mädchen«, bestätigte sie. »Die Schiffe kommen aus der Hauptstadt und gehören zu der offiziellen Handelsflotte des Königshauses.«

»Und was liefern Sie?«

»Vor allem Wolle«, erklärte die Frau. Sie setzte sich in Bewegung und deutete mit einem Nicken an, dass sie ihnen folgen sollten. Dann steuerte sie auf eine Rampe zu, die in das Innere des Schiffes führte. Charlotte war begeistert und folgte ihr direkt, während Samuel leise stöhnte. »In der Hauptstadt gibt es eine große Farm, die hiesige Schafe mit Tieren aus der anderen Welt gepaart hat. Ihre Wolle ist hier besonders begehrt, da sie nicht nur angenehm weich und fein ist, sondern auch widerstandsfähig.«

»Und sowas Edles wird dann hier her gebracht?«, fragte Charlotte und blickte über die Schulter zu Samuel, welcher nun auch hellhörig wurde. »Was hat Barston denn im Gegenzug dazu zu bieten?«

Sie traten auf die Rampe und gingen an Bord. Die Frau führte die Zwei zum Frachtraum, deren Türen offen standen, da Arbeiter hin und her eilten. Die beiden Journalisten wichen ihnen aus und hielten sich am Rand, um nicht im Weg zu stehen, dann traten sie ein und ihre Augen weiteten sich. Federn. Kistenweise Federn wurden hier gelagert.

»Der Premierminister hat eine Quelle für Federn von Steam Angeln«, erklärte die Frau und trat an eine der offenen Kisten. Sie nahm ein paar Federn heraus und reichte sie an die beiden. »Das ist in der Hauptstadt mehr wert, als die Wolle. Sie werden für Hüte und andere Kleidungsstücke genutzt. Und Engel neigen nicht dazu, dass man ihnen die Federn abnimmt.«

Charly öffnete den Mund. Schloss ihn allerdings wieder, unischer was sie sagen sollte. Die Feder in ihrer Hand war weich und perfekt. Nie hat sie eine solche, makellose Feder gesehen und ein heimlicher Blick zu Samuel verriet ihr, dass es ihm genauso ging. Doch ihr drängten sich weitere Fragen auf und sie schluckte kaum merklich.

»Woher kommen diese Federn?«

»Keenen Schimmer«, sagte die Andere und zuckte mit den Schultern. »Sie werden einmal im Jahr im Austausch gegen Wolle und Gewürze geholt. Mehr weiß ich auch nicht.«

»Okay und warum durften wir nun an Bord?«

Es war der junge Journalist, der die Frage aussprach, die auch Charlotte sich soeben schon gestellt hatte und die ihr einen kalten Schauder über den Rücken kriechen ließ. Die Frau jedoch lächelte schelmisch und zwinkerte ihnen zu.

»Ich wurde heute meines Dienstes enthoben«, sagte sie trocken. »Also kann es mir egal sein, wer hier von allet weeß.«

Und damit verließ sie den Frachtraum und ließ die beiden verdutzten Journalisten einfach stehen. Die sahen sich fragend an. Die Arbeiter um sie herum schienen sie auch weiterhin nicht zu beachten. Sie schleppten stur die Waren hin und her und waren offenbar komplett darauf fokussiert. Dennoch war ihnen die Situation nicht geheuer und sie schlüpften eilig wieder nach draußen und runter vom Schiff. Ohne ein weiteres Wort über die Sache zu verlieren, liefen sie zurück zum Clubhaus. Nach Feierabend würden sie mit Alexander und Timothy darüber sprechen, so viel stand fest.

 

*****

 

»Und was genau sollte das nun?«

»Die Sache geht mir nicht schnell genug«, sagte einer der beiden Engel, die auf dem Mast des Schiffes saßen und Charlotte und Samuel nachsahen. »Sie soll ruhig wissen, dass hier etwas nicht stimmt. Vielleicht nimmt die Sache dann endlich mal Fahrt auf.«

»Das war dumm, Schwester!«

»Wenn du das sagst, Bruder«, murmelte die Angesprochene und erhob sich wieder. »Ich weiß nicht, wie es dir geht, doch ich werde dieser Welt und ihrer Bewohner allmählich überdrüssig. Ich habe nicht die Absicht, noch mehr Zeit als unbedingt nötig hier zu verschwenden und ich denke, auch Mutter wird mir in diesem Punkt zustimmen: Es dauert alles zu lange!«

Damit stieß sich der Engel in die Lüfte und verschwand in den Wolken. Der andere blieb sitzen und schnaufte verächtlich. Natürlich ging alles zu langsam. Es war aber nicht hilfreich, wenn sie das Mädchen mit Gewalt auf solche Dinge stießen. So viel stand fest.

»Die Kleine ist naiv«, murmelte der Engel. »Aber ehe sie den Menschen nicht vertraut, wird sie eher uns misstrauen. Sie braucht einfach die Zeit.«

 

*****

 

»Das ist mir egal! Ich habe sie in der Annahme, dass du auf sie aufpassen würdest, mit dir mitgehen lassen und was machst du? Du schleppst sie runter zum Hafen, lässt sie irgendeine Fremde ansprechen und gehst mit ihr auf ein Schiff?«

Alexanders Stimme donnerte durch die halbe Redaktion. Zwar regelmäßig von Explosionen aus der Fünften übertönt, dennoch war Timothy froh darüber, dass Anabell nicht da war. Der Chefredakteur befand sich gerade nicht in einem Zustand, in dem er auf seine Lautstärke achtete, und das hätte andernfalls verheerend für sie werden können. Er seufzte leise und sah mitleidig zu Samuel, welcher mit dem Rücken am Türrahmen zur Dunkelkammer lehnte und zu Boden starrte. Vor etwa fünfzehn Minuten hatten sie Feierabend gemacht, da platzten Charlotte und er mit den Informationen raus, die sie durch Zufall erhalten hatten.

Der Journalist wiederholte die Worte im Stillen und versuchte, sich den Laderaum vorzustellen, wo kistenweise Federn von Steam Angel standen. Zu dem Chefredakteur war die Schwere dieser Information noch gar nicht durchgedrungen, zu sehr vernebelte die Wut seinen Verstand und machte ihn für diesen Moment blind allem anderen gegenüber. Sein Blick schweifte zu Charlotte, welche am Tisch saß und immer wieder die Augen verdrehte und versuchte Alexander in seinen Vorwürfen zu unterbrechen. Bisher vergebens. Sie warf Timothy einen flehenden Blick zu. Er aber schüttelte den Kopf. Da würde er sich ausnahmsweise nicht einmischen.

»Du bist schon lange genug hier, um zu begreifen, wie gefährlich die Situation war, in die ihr euch gebracht habt«, polterte Alexander weiter.

»Mann, es tut mir doch leid«, sagte Samuel zum hundertsten Mal. »Ich pass das nächste Mal besser auf sie auf. Versprochen.«

»Es geht doch gar nicht nur um sie!«

»Außerdem kann ich auch ganz gut auf mich alleine aufpassen!«, platzte es aus Charlotte heraus. Timothy hob eine Braue und sah zu Alexander. »Ich bin in der anderen Welt auch ohne Hilfe klar gekommen. Und Alex, wenn du willst, dass man dich als Chef ernst nimmt, dann solltest du vielleicht mal an deinem Temperament arbeiten und deinen Mitarbeitern zuhören, wenn die dir etwas berichten wollen!«

Der hatte gesessen. Sie war kaum verstummt, als sich eine unangenehme Stille ausbreitete. Sam war regelrecht erstarrt und wagte offensichtlich, nicht einmal zu atmen. Selbst Timothy, welcher im Normalfall keine Schwierigkeiten mit den Ausbrüchen seines Chefs hatte, entschied einige Schritte zurückzugehen und lieber nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Denn Alexander kochte. Er stand vor Samuel, den Blick gesenkt und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Dann lachte er leise.

»Okay«, sagte er schließlich, mit einer Ruhe, die beinahe bedrohlich wirkte. »So siehst du das also? Man kann mich als Chef nicht ernst nehmen?«

Er sah sie nun direkt an. Selbst aus der Entfernung erkannte Timothy, dass sich die Neue nun lieber gut überlegen sollte, wie sie darauf antwortete. Ein falsches Wort und Alexander würde hochgehen, wie eines der Experimente im Haus. Aber sie bekam das entweder nicht mit oder es ließ sie vollkommen kalt, denn sie nickte.

»Ja, so sehe ich das«, sagte sie und Timothy stöhnte leise. Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu und wandte sich wieder an ihren Vorgesetzten, der sie nur anstarrte. »Du polterst hier wie so ein verschnupftes Nashorn, lässt keinen von uns beiden zu Wort kommen und reitest darauf rum, dass man auf mich aufpassen müsste. Gott, Alexander, krieg dich mal ein!«

Sie erhob sich und ging Richtung Tür.

»Wo willst du hin?«, fragte Alex. »Ich habe dir nicht gestattet zu gehen!«

»Mir ist dein Machogetue zu blöd!«, sagte sie. »Ich geh spazieren, bis du dich wieder beruhigt hast und man mit dir reden kann.«

»Du gehst nirgendwo hin!«, knurrte der Chefredakteur. Alle anderen schwiegen.

»Ich habe keine Lust auf dieses Affentheater, Alexander«, sagte sie und sah ihn genervt an.

Es war ein seltsamer Anblick. Auf der einen Seite stand da dieser Teenager, der sich gegen seinen Chef auflehnte und sich aus dem Staub machen wollte. Gleichzeitig meinte Timothy aber darin eine Stärke zu erkennen, die sie hier brauchen würde. Sich aus der Situation herausnehmen, bis die Gemüter abgekühlt waren. Nicht die dümmste Idee. Wenn sie nur nicht diesen trotzigen Blick dabei gehabt hätte. Denn der brachte bei Alex das Fass nun zum Überlaufen.

»Wenn du jetzt gehst«, fing er an und am liebsten wäre ihm Timothy nun doch ins Wort gefallen, doch da sprach er schon weiter. »Kannst du heute Nacht bei Rebecca im Laden schlafen! Dann will ich dich heute nicht mehr sehen.«

Sie blinzelte und für einen Moment sah es aus, als würde sie zurückrudern. Doch stattdessen nickte sie. »Okay.«

Damit verließ sie die Redaktion und ließ die Drei stehen. Alexander fuhr sich mit der Hand über den Mund und das Kinn. Er kochte noch immer, aber ihm war anzusehen, dass seine Wut dabei war zu verrauchen. Sein Körper zitterte. Timothy trat vor und sah seinen Freund besorgt an und schaute dann zur Tür.

»Alex ...«

»Nein«, sagte dieser. »Ich werde ihr nicht nachgehen.«

»Aber ...«

»Bei Rebecca ist sie sicher.«

»Wenn sie zu ihr geht«, bemerkte Samuel trocken. »Darf ich nun auf mein Zimmer gehen, oder erwartet mich eine weitere Standpauke?«

Alexander atmete hörbar ein und wieder aus, dann deutete er zum Tisch. »Du kannst dich mal setzen und mir noch mal in Ruhe erzählen, was ihr rausgefunden habt.«

»Ach jetzt auf einmal?«, fragte Sam, setzte sich aber tatsächlich hin. »Das muss man der Maus echt lassen, sie hat ein Temperament, welches deinem in Nichts nachsteht.«

Er bekam keine Antwort darauf und Timothy flehte innerlich, dass sein Mitbewohner jetzt nicht für weitere Eskalationen sorgte. Wortlos nahm er sich seinen Notizblock und einen Stift zur Hand und setzte sich zu den beiden an den Tisch. Dann schrieb er mit, was Sam erzählte.

 

*****

 

Charlotte lief durch die ungewohnt ruhigen Straßen einer Stadt, die sie vor nicht mal einer Woche noch als Traum abgestempelt hatte. Seitdem war viel passiert. Sie war von zuhause weggelaufen – mal wieder –, hatte die Hand eines Fremden ergriffen und war in einen mysteriösen Zug gestiegen. Sie hatte mitangesehen, wie ihre Mutter starb, und war in einen Aufstand geraten. Außerdem war sie geküsst worden und hatte ihren Vater getroffen. Alles hatte sich verändert und Charlotte wusste nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Sie wollte mit jemanden über das Chaos in ihrem Kopf sprechen, fühlte sich aber alleingelassen.

Alexanders Sturheit war an dieser Stelle auch nicht sonderlich hilfreich. Eher im Gegenteil. Er sorgte dafür, dass sie sich immer weiter zur Wehr setzte und inzwischen das Gefühl hatte, ihre Akkus bis aufs Letzte aufzubrauchen. Eine Pause. Charlotte wünschte sich ein wenig Erholung, um alles zu verarbeiten. Mit diesen Gedanken wanderte sie durch die Straßen und betrachtete die leergefegten Geschäfte. Die Wirtschaft war seit dem Anschlag zum Erliegen gekommen und eine Besserung war nicht in Sicht.

Die Stadt wirkte trostlos. Keine flanierenden Passanten, nur Menschen, die von ihrer Arbeit nach Hause gingen oder sich mit anderen unterhielten. Sie lief an mehreren Grüppchen vorbei, die sich angeregt über die Vorkommnisse der letzten Tage austauschten und sich mit ihren Vermutungen und den Gerüchten, die sie aufgeschnappt hatten, übertrumpften. Gelegentlich bemerkte sie allerdings, dass man auch sie musterte, und sie war sich nicht sicher, ob ihr das gefiel. Sie versuchte, sich davon abzulenken, und betrachtete die Gebäude und Straßenzüge.

Je weiter sie ging, desto deutlicher wurden die Auswirkungen des Anschlags. Mal ganz abgesehen von den leerstehenden Geschäften – denen hatte man immerhin Geschäftsräume am Stadtrand angeboten – waren auch die Wohnhäuser und die Straßen der höheren Ebenen arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Fassaden bröckelten und tiefe Risse zogen sich durch Straßen und Hauswände. Gebrochene Fensterrahmen und -scheiben waren nur behelfsmäßig geflickt worden.

Zum Teil hatte man Zeitungen genommen und auf die Löcher in den Fenstern geklebt. Da riss natürlich der Wind dran und versuchte, das Papier wieder abzureißen und in das Innere der Gebäude zu gelangen. Ihr taten die Menschen leid, die auf der anderen Seite lebten. Der Geruch, welcher aus den Rinnen unter den Bürgersteigen drang, kroch nun vermutlich auch in ihre heimischen vier Wände und setzte sich dort fest. Charlotte erschauderte.

Allein der Gedanke daran, dass ihre Sachen wahrscheinlich auch schon danach rochen und sie es nur nicht mehr mitbekam, ließ ihren Magen einen Augenblick rebellieren. Sie blieb an einer völlig verbogenen Laterne stehen, hielt sich an dieser fest und schloss einen Moment die Augen. Erst als sie sicher war, dass sie sich nicht übergeben musste, lief sie weiter. Die Treppen und Leitern, welche auf die Ebenen über ihr führten, waren ebenfalls stark demoliert worden. Aber sie waren immer noch begehbar.

Der Rotschopf blieb ein weiteres Mal stehen, so, dass die wenigen Passanten entspannt an ihr vorbeikamen. Ein Soldat, der in der Nähe patrouillierte, wurde auf sie aufmerksam und kam auf sie zu. Sie bemerkte ihn erst, als er direkt vor ihr stand und sich räusperte. Erschrocken zuckte sie zusammen und sah den Uniformierten unschuldig an. Dabei drohte ihr Herz regelrecht stehen zu bleiben.

»Guten Abend«, sagte der Soldat mit strengem Ton.

»Guten Abend«, antwortete sie höflich und versuchte, ihre Unsicherheit und Panik so gut es ging zu verbergen. »Kann ich Ihnen weiterhelfen?«

»Nun, dass wollte ich gerade Sie fragen«, erwiderte der Uniformierte schroff. »Allein unterwegs, bleiben mitten im Weg stehen und sehen sich nachdenklich um. Mit Verlaub, doch das ist mehr als auffällig.«

Einen Moment lang sah sie ihn fragend an, dann lächelte sie erleichtert. »Ach Sie glauben, dass ich vor Ihrer pfiffigen Nase einen Anschlag plane?«, sie lachte leise. »Nein, machen Sie sich da bitte keine Sorgen, ich habe nicht vor Ihnen unnötig Arbeit aufzuhalsen, indem ich einen terroristischen Anschlag plane. Aber womöglich könnten Sie mir tatsächlich weiterhelfen. Ich bin ehrlich gesagt ein Neuankömmling in Barston. Ich arbeite bei der Zeitung und hatte heute etwas Klinsch mit meinem Chef. Deswegen bin ich überhaupt unterwegs. Ich bin neu in Barston, vor ein paar Tagen erst hier angekommen, alles ist so laut und hektisch und ich würde einfach gerne mal einen Ort besuchen, an dem es ruhig und friedlich ist. Um wieder Kraft zu tanken, verstehen Sie?«

Der Soldat hörte ihr schweigend zu und blinzelte etwas überrumpelt. Offensichtlich war er es nicht gewohnt, dass ein Bürger der Stadt ihn tatsächlich um Hilfe bat. Jedenfalls sah er sie einen Moment lang irritiert an, fasste sich dann aber wieder und dachte nach. Charlotte wartete geduldig und lächelte dabei. Ihr Herz war immer noch am Rasen und mit jeder Sekunde, die verstrich, meinte sie dem Tod ein Stück näher zu kommen. Doch schließlich nickte der Soldat und deutete Richtung Norden.

»Wenn ich mich recht entsinne, gibt es in der Nähe vom Regierungsviertel einen kleinen Park«, sagte er. »Geh mal immer schön die Hauptstraße weiter, bei der dritten Kreuzung dann links. Und ab da an immer rechts halten, dann solltest du den Park finden. Er ist nicht zu übersehen und sehr friedlich.«

Wann sind wir denn beim Du angekommen?, schoss es Charlotte durch den Kopf. Doch sie vermied es, ihre Gedanken laut auszusprechen, und nickte nur.

»Vielen Dank«, sagte sie, als er fertig mit seiner Beschreibung war. »Dann werde ich dort hingehen. Ach ich habe am Rande etwas von einer Sperrstunde gehört und bisher nicht weiter nachgefragt: Wann ist die?«

»Um elf Uhr am Abend«, gab der Soldat freundlich Auskunft. »Bis dahin solltest du von der Straße runter sein, sonst gibt es Ärger. Die geht dann bis fünf Uhr morgens.«

»Alles klar, dann wünsche ich Ihnen noch einen angenehmen und möglichst ruhigen Nachmittag.«

»Ebenso«, erwiderte der Soldat und hob seine Mütze. »Ich empfehle mich.«

Damit ging er und Charlotte atmete kaum merklich auf. Dann machte sie sich eilig auf den Weg, ehe er doch noch auf die Idee kam, ihr Mal prüfen zu wollen. Einige Passanten waren bereits auf sie und den Soldaten aufmerksam geworden und das Mädchen wollte schnellstmöglich von hier weg. Fort von den Blicken und dem Getuschel, welches sie sich vermutlich nur einbildete. Der Fluch einer instabilen Psyche: Sofort, wenn sie Leute sah, die sich unterhielten – und sie bekam nicht mit worüber – redete sie sich ein, dass sie das Thema war. Dabei konnte es sich genauso gut um das Wetter drehen.

Schnellen Schrittes bewegte sie sich durch die Straßen. Sie erreichte die Abschnitte, in denen die Verwüstung am deutlichsten zu sehen war. Zu beiden Seiten der Kreuzung gab es Absperrungen. Charlotte blieb an einer dieser Sperrungen stehen und betrachtete die Überreste des Anschlags. Sie schluckte. Die Straße, in der sie den Jungen gefunden hatte, war völlig zerstört. Nicht nur zu ihren Füßen, wo sich ein gewaltiger Riss auftat, sondern auch die Gebäude. Ganze Hauswände waren eingestürzt, Wohnungen lagen verwaist und offen da. Sie konnte die irreparabel zugerichteten Innenräume sehen, wo vor wenigen Tagen noch Menschen zu Abend gegessen hatten.

Der Schutt türmte sich vor der Absperrung, um die Sicht auf die Ebene unter der Straße zu erschweren. Heiße Schwaden drangen nach oben und ließen die Luft flirren. Stege, die zu höheren Teilen der Stadt führten, waren eingerissen und Treppen und Leitern nicht mehr begehbar. Und niemand war hier, um das Chaos zu beseitigen. Die Minuten verstrichen. Sie stand einfach da, im Licht der langsam untergehenden Sonne und starrte auf das Schlachtfeld. Bei allem, was sie von Alexander über die Zustände dort unten gehört hatte: War es das wirklich wert? Die Lebensgrundlage so vieler Menschen zu vernichten?

Es bildete sich ein dicker Kloß in ihrem Hals und immer wieder schluckte sie, um ihn zu lösen und den Tränen einhalt zu gebieten, die sich ihren Weg bahnten. Unaufhaltsam füllten sie ihre Augen und liefen schließlich die blassen Wangen entlang. Sie brannten in den Schürfwunden jenen Tages und spülten ihr den Staub des Clubhauses in die Augen. Das Brennen wurde stärker und sie musste blinzeln.

»Furchtbar, nicht wahr?«

Sie zuckte zusammen und drehte sich um. Neben ihr stand Anabell und starrte auf die Verwüstung. Die Journalistin sah müde aus, als ob die vergangenen Nächte nicht von sonderlich viel Schlaf gekrönt waren. Charlotte entschied sich, die dunklen Schatten unter den Augen unkommentiert zu lassen und nickte nur. Was sollte sie schon groß sagen? In den Tagen, die sie nun schon hier war, hatte sie kaum ein Wort mit der jungen Frau gesprochen und bekam von allen Seiten eingetrichtert, dass sie sich von ihr fernhalten müsse. Und jetzt? Jetzt standen sie nebeneinander und sahen, was nicht mehr zu übersehen war: Ein Umbruch stand bevor.

»Darf ich dich etwas fragen, Anabell?«

»Hm?«

»Wie stehst du zu dem Ganzen?«, fragte Charlotte und deutete auf die Verwüstung. »Ich bin selbst sehr zwiegespalten und kann mich nicht recht entscheiden, welchen Standpunkt ich vertreten kann und möchte. Einerseits höre ich, was hier los ist. Dass da unten Menschen im Elend leben und nur nach oben wollen. Andererseits ...«

»Andererseits starben hier eine Menge Menschen oder wurden verletzt und ihrer Lebensgrundlage beraubt«, beendete die Journalistin Charlys Ausführungen. Diese nickte erneut. »Tja, ich werde dir da wohl keine Hilfe sein. Schließlich bin ich die böse, regierungskonforme Anabell. Ich verurteile aus Prinzip die Rebellen. Wusstest du das nicht?«

Charlotte rollte mit den Augen. »Jetzt machst du es dir aber auch einfach«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. »Ich kenne dich nicht und weiß nichts über dich und deine Meinung. Aber eines weiß ich mit Sicherheit: Nur weil man überleben will, ist man nicht gleich einverstanden mit dem, was die Regierung tut.«

Damit ging sie und ließ Anabell allein vor dem Schlachtfeld stehen. Mit jemanden wie ihr ein Gespräch zu führen, wäre mit ihrer aktuellen Einstellung eine reine Zeitverschwendung. Allmählich änderte sich die Stimmung in den Straßen. Sie begegnete immer mehr Anwohnern, die ihren Alltag fortführten, als wäre nie was geschehen und am liebsten hätte die Sechzehnjährige sie angebrüllt, dass da Menschen waren, die ihre Hilfe brauchten. Dass sie was tun mussten. Sich zur Wehr setzen. Aber was dann? Die Rebellen wollten ja genau das: Sich zur Wehr setzen, die Regierung zu Fall bringen und alle Menschen und Steam Angel von ihrem elenden Schicksal befreien.

Aber was kam nach dem Putsch? Wie sollte es für die Bewohner Barstons weitergehen? Wer würde hier für Ordnung sorgen und auf welche Art und Weise? Die Rebellen? Richard? Könnte ihr Vater eine gesamte Stadt übernehmen und trotzdessen, was er und seine Verbündeten hier erlebt hatten, fair und gerecht bleiben? Unvoreingenommen, gegenüber den Menschen, die der Regierung gehorcht haben? Die Soldaten, die nur ihren Job machten? Die Journalistin, die leben wollte? Charlotte schluckte abermals, während sie weiterlief und den Blicken der Anwohner auswich.

Wer ist schon frei von jedweder Schuld?, dachte sie. Wer könnte den ersten Stein werfen?

Abgelenkt von ihren Gedanken und den Szenarien, die sich ihr Verstand ausmalte, erreichte sie nach einiger Zeit den Park, von dem der Soldat gesprochen hatte. Die Straße war zu Ende, genau wie die Stadt und das erste Mal erkannte Charlotte, dass mit Barston etwas nicht stimmte. Eine hohe Backsteinmauer schirmte die Stadt von der Außenwelt ab und obendrauf war Stacheldraht befestigt. Sie schluckte und wandte sich von der Mauer ab. Hin zu dem verwilderten Park rechts von ihr. Ein Zaun aus völlig verbogenen Eisenstangen, die vielleicht einen halben Meter hoch waren, trennte die grüne Oase vom Rest der Stadt und mit einem Mal fiel Charlotte auf, dass sie in ganz Barston nicht eine Pflanze gesehen hatte. Bis jetzt.

Vom unteren Ende der Straße hörte sie ein Pfeifen. Sie sah sich nach dem Ursprung um und entdeckte einen Mann, der mit Leiter bewaffnet die Laternenreihen entlang ging und eine nach der anderen entzündete. Stirnrunzelnd wandte sie sich ab und widmete sich wieder dem Park und dem rostigen Torbogen, welcher den Eingang darstellte. Sie zögerte. Dieses Mal zögerte Charlotte wirklich. Die Sechzehnjährige stand direkt vor dem Tor und wagte keinen Schritt weiter. Das Mal an ihrem Handgelenk kribbelte und ihr Herz raste, wie die Flügel eines Kolibris. Doch warum? Charly wusste es nicht. Also schloss sie die Augen, atmete tief ein und wieder aus. Bis sie ruhig genug war, dass sie eintreten konnte.

Ein schmaler Bach floss durch den Park. Das Wasser schimmerte in einem magischen Blauton und Charlotte fragte sich, was dafür verantwortlich war. Womöglich eine Art fluoreszierende Alge? Sie folgte dem Verlauf des Gewässers und versuchte, einen Blick auf seine Bewohner zu erhaschen. Doch die huschten zwischen den Steinen entlang, aufgescheucht von der Fremden, die es wagte, ihre Ruhe zu stören. Sie lächelte.

»Habt ja recht«, sagte sie leise. »Ich lass euch in Frieden.«

Damit entfernte sie sich vom Wasser und sah sich weiter in dem Park um. Die Bäume waren hoch und ihre Stämme zum Teil so dick, dass Charlotte sie auf mehrere hundert Jahre schätzte. Das Blätterdach war dicht und ließ nicht zu, dass man als Besucher den Himmel sah. Um sie herum herrschte völlige Stille, die nur von dem leisen Flüstern des Windes gebrochen wurde, der in den Ästen und Zweigen der Bäume spielte. Er umgarnte sie förmlich und führte sie immer tiefer in den Park. Sämtliche Hektik fiel von dem Mädchen ab und sie ließ sich in der Ruhe treiben. Die Luft war frisch und rein, ohne Spuren des Smogs. Als wäre sie in eine Welt eingetaucht, die fernab von Barston existierte.

Charlotte konnte nicht anders und fing an zu tanzen. Sie spürte die Musik der Vergangenheit durch ihre Glieder fließen. Hörte die Lieder ihrer liebsten Bands in ihrem Kopf und summte leise mit. Dabei scheuchte sie leuchtende Insekten auf, die panisch auseinanderstoben und sich woanders niederließen.

Und dann befand sie sich plötzlich auf einer Lichtung.

Der Wechsel war so abrupt erfolgt, dass Charly verstummte und sich umsah. Inzwischen stand der Mond hoch am Himmel und warf sein kaltes Licht auf eine Statue aus weißem Stein. Sie blinzelte. Es war die Skulptur eines Engels, dessen vier riesige Schwingen seinen Körper einhüllten. Langsam schritt sie auf das Kunstwerk zu und umrundete es schweigend. Wenn sie an andere Abbilder von Engeln dachte, dann fielen ihr vor allem heroische Posen ein. Halbnackte Männer, deren Muskeln unnatürlich definiert waren. Doch diese Statue war völlig anders.

Der Engel kniete am Boden und starrte zu ihr hoch. Wobei, wenn sie der Richtung seines Blickes folgte, dann war seine Aufmerksamkeit auf etwas über dem Mädchen gerichtet. Der Engel hatte einen seiner Arme abwehrend ausgestreckt und Mund und Augen weit aufgerissen. Als würde er schreien. Unwillkürlich erschauderte sie und sah über die Schulter. Doch sie war allein. Sie wandte sich eilig wieder der Statue zu und legte ihre Finger auf ihre kalte Wange.

»Marmor?«, flüsterte sie. »Was zum ...«

Sie zog die Hand weg und starrte auf die Stelle, die sie soeben berührt hatte. Hatte sie einen Puls gefühlt? Charlotte schüttelte den Kopf und schob diese Gedanken eilig beiseite. Stein hat kein Blut, also konnte sie dessen Pulsieren nicht gespürt haben. Oder doch? Sie trat näher und beugte sich zu dem Engel runter. Das Mädchen blickte in leblose, steinerne Augen und richtete sich nachdenklich auf.

»Tja«, sagte sie leise. »Was immer mit dir nicht stimmt, wenn ich mir den Stand des Mondes so ansehe, dann hast du heute Nacht Gesellschaft, mein Freund. Ich hoffe, du hast da nichts gegen. Aber durch die Straßen will ich lieber nicht mehr laufen. Hier scheint keiner herzukommen.«

Sie setzte sich seufzend zu den Füßen des Engels und lehnte sich an den kalten Stein. Die Müdigkeit und der Hunger meldeten sich leise, doch sie schloss die Augen und ignorierte zumindest das unablässige Knurren. Bis sie eingeschlafen war und in die traumlose Dunkelheit versank.

Kontakt

Ich bin immer auf der Suche nach neuen, spannenden Möglichkeiten.

+49 (0) 175 456

bottom of page